Rede von Torsten Felstehausen

Torsten Felstehausen - Die Geschichte des NSU ist eine Geschichte des Staatsversagens

Torsten FelstehausenInnenpolitik

In seiner 119. Plenarsitzung am 16. November 2022 diskutierte der Hessische Landtag zu den NSU-Akten. Dazu die Rede unseres innenpolitischen Sprechers Torsten Felstehausen.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die Geschichte des NSU ist eine Geschichte des rechten Terrors. Es ist die Geschichte des Mordes an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Es ist eine lange Geschichte von Sprengstoffanschlägen und Raubüberfällen. Es ist die Geschichte eines Staatsversagens und eines Versagens der Sicherheitsbehörden. Es waren diese Sicherheitsbehörden, die nicht in der Lage waren, den rassistischen Hintergrund der Mordserie zu erkennen. Sie kriminalisierten die Opfer und haben die tödliche Gefahr der Neonazis unterschätzt, trotz der rassistischen Welle in den Neunzigerjahren, der Welle von Gewalt und mörderischen Anschlägen von Solingen, von Mölln, von Hoyerswerda und Rostock, die so viele Todesopfer und noch mehr Verletzte forderten.

Die als sogenannte NSU-Akten bekannt gewordenen Berichte sind ein Dokument dieses Staatsversagens. Sie zeigen auf erschreckende Weise, wie unfähig und wie konzeptlos das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz mit der Fülle von Informationen über Neonazis umging. Sie zeigen, wie wenig der Staat dazu willens und in der Lage war, Menschen vor rechter Gewalt zu schützen.

Meine Damen und Herren, deshalb ist es gut, dass jetzt durch die Veröffentlichung von Journalisten jede und jeder diese Berichte lesen kann. Missstände dieses Ausmaßes müssen öffentlich debattiert werden und gehören nicht in verschlossene Aktenschränke.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Das haben auch die mehr als 134.000 Menschen so gesehen, die sich mit der größten Petition in der Geschichte des Hessischen Landtages an uns, an die Abgeordneten, gewandt haben, um die Freigabe der NSU-Akten zu fordern. Jedem Einzelnen und jeder Einzelnen, die diese Petition unterschrieben haben, gilt unser herzlicher Dank.

Denn wir erinnern uns: CDU und GRÜNE haben die Freigabe verhindert. Die Begründungen damals hießen, die Offenlegung der Akten würde die Sicherheitsarchitektur des Landes gefährden, Informanten würden gefährdet werden, und man könne dann keine neuen anwerben, außerdem würden andere Sicherheitsbehörden nicht mehr mit den Sicherheitsbehörden in Hessen zusammenarbeiten wollen.

All diese Argumente waren vorgeschoben, damit verhindert wird, dass die breite Öffentlichkeit vom Versagen des Verfassungsschutzes Kenntnis nimmt.

Nun heißt es aus den Reihen der die Regierung tragenden Fraktionen, der Bericht enthalte überhaupt keine neuen Erkenntnisse, weil alles schon in öffentlichen Sitzungen im NSU-Untersuchungsausschuss thematisiert worden sei. Ja, aber lassen Sie uns zurückblicken: Wie kam es denn dazu, dass diese Akten im NSU-Untersuchungsausschuss thematisiert werden konnten?

Es war ja nicht so, dass das Innenministerium von sich aus das Parlament informierte, dass es diese jahrelange intensive Aktenrecherche im Landesamt für Verfassungsschutz gegeben hatte, dessen Ergebnis dieser vernichtende Bericht war. Nein, weder zu Beginn des Untersuchungsausschusses noch gegenüber dem Innenausschuss und – wie wir inzwischen auch wissen – auch nicht gegenüber der Parlamentarischen Kontrollkommission wurde darüber ein Sterbenswörtchen verloren. Es sollte geheim bleiben, und zwar für 120 Jahre.

Es war meine Fraktion, die Fraktion der LINKEN, die in geheimen Akten einen Hinweis darauf fand, dass es diesen Bericht geben musste. Wir hatten damals einen Beweisantrag gestellt und die Lieferung der Berichte an den Untersuchungsausschuss beantragt. Als wir das ganze Ausmaß des Versagens schwarz auf weiß hatten, war klar: Das muss öffentlich thematisiert werden.

Aber all diese Erkenntnisse, die Erkenntnis, dass es den Bericht und die ihr zugrunde liegende Aktenprüfung überhaupt gab, sind der Arbeit der LINKEN zu verdanken. Nur so ist dies ans Licht gekommen.

Dennoch blieben auch nach Abschluss des Untersuchungsausschusses für die Öffentlichkeit viele Fragen offen. Die Brisanz der bereits veröffentlichten Informationen aus dem Bericht und die schier unglaubliche Einstufungsfrist von 120 Jahren befeuerten doch erst den Mythos dieses Berichts.

Als schließlich durch die Klage eines Journalisten bekannt wurde, dass der Name des Mörders von Walter Lübcke, Stephan Ernst, elfmal in den Akten auftaucht, war klar: Die Öffentlichkeit will den gesamten Bericht lesen, und sie hat ein Recht darauf.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Das Misstrauen in Politik und Behörden war zu dem Zeitpunkt schon so groß, dass es die interessierte Öffentlichkeit mit eigenen Augen sehen und selbst prüfen wollte – völlig nachvollziehbar, völlig zu Recht.

Daher sage ich sehr klar Danke, Danke an das Team von Jan Böhmermann und FragDenStaat für die Veröffentlichung der Akten und für diese Transparenzoffensive.

(Beifall DIE LINKE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht hatten Sie noch nicht die Zeit, das Dokument in Gänze zu lesen; immerhin sind es 173 Seiten. Deshalb möchte ich ein paar zentrale Punkte aus diesem Bericht vortragen:

Insgesamt wurden von der Aktenprüfgruppe … 950 Hinweise übergeben. … 41 % [davon] betraf[en] Hinweise auf einen möglichen Waffen- oder Sprengstoffbesitz.

Das kannten wir schon aus dem Untersuchungsausschuss. Für die Öffentlichkeit neu ist die tabellarische Anlage, in der ca. 390 Hinweise auf Waffen- und Sprengstoffbesitz von Neonazis aufgelistet sind.

Interessant ist dabei, dass in der Spalte „Inhalt/Aktenbetreff“ einige Male steht „Waffenbezug – damals schon bearbeitet“. Oft steht dort aber nur „Waffenbezug“; das ist offensichtlich damals nicht bearbeitet worden.

Ich will einige Beispiele nennen:

Skinheadszene Kirtorf: 1992 Abhalten von Wehrsportübungen mit scharfen Waffen

Oder: Person X besitzt Sturmgewehre und eine Panzerfaust bei sich zu Hause. [X] habe seine Waffe in einem BankSchließfach in KS aufbewahrt.

Oder ebenfalls offensichtlich vom LfV nicht bearbeitet:

Quelle X bezeichnet Person Y als einen Waffen- und Sprengstoff-Fanatiker. Als Sammler jeglicher Waffen, Orden und Anhänger sei er im Besitz des Waffenscheins. Ferner beabsichtige er auch den Sprengstoffschein zu machen (oder besitze diesen gar schon). ... In seiner Freizeit bastele und hantiere [er] an Bomben herum.

Das wären Information gewesen, die an die Waffenbehörden hätten fließen müssen. Hier hat das LfV, hier hat der Staat gründlich versagt.

(Beifall DIE LINKE)

Ein letzter Punkt – bitte denken Sie, wenn ich ihn vortrage, an die Entstehungsgeschichte des NSU –:

Im März 1982 äußerte sich [Person X] gegenüber [Quelle Y], dass er eine Gruppe aufstellen und gegen die Ausländer in der BRD kämpfen will. Das Geld für die Planungen will [Person X] aus Banküberfällen beschaffen. Im Zusammenhang mit einer rechtsextremistischen Untergrundorganisation wird die Beschaffung von Waffen und Material aus der Schweiz genannt.

[Person Y] hat am 10.07.1983 an einem konspirativen Treffen u. a. mit dem Thema „unabhängige Zellen“ teilgenommen. Aufgabe der „Zellen“ soll u. a. die Durchführung von Anschlägen und Attentaten sein.

Wenn solche Hinweise im Landesamt für Verfassungsschutz eingehen, zur Kenntnis genommen und abgeheftet werden, bevor sie zum Schluss für 120 Jahre in den Aktenschränken liegen bleiben, reden wir zu Recht von einem Staatsversagen vor dem Hintergrund der ungeheuerlichen Mordserie des NSU.

(Beifall DIE LINKE und vereinzelt SPD)

Der Bericht benennt es auch so. In dem Bericht heißt es im Ergebnis, dass es viele Belege gegeben habe, die in ihrer Gesamtheit deutlich machten, dass oft „interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten ... zum Zeitpunkt der Datenerhebung“ nicht nachgegangen worden sei.

Klar ist: Der Verfassungsschutz hatte Hinweise auf Sprengstoff, auf Waffen und auf die Organisierung von Nazis im Untergrund. Aber, meine Damen und Herren, er hat nichts gemacht.

Deshalb sprechen wir LINKE an dieser Stelle von Staatsversagen. Eine Behörde, die es weiß und nicht handelt, macht sich mitschuldig an diesen Taten.

(Beifall DIE LINKE und Turgut Yüksel (SPD))

Die V-Leute, die in der Szene waren, das ganze Geld, das durch diesen Apparat der Spitzel und Zuträger in die Szene floss – völlig sinnlos. Wir können nur feststellen: Der Verfassungsschutz hat mehr Schaden angerichtet, als er geholfen hat. Daher stimmte damals so wie heute: Der Verfassungsschutz ist kein Schutz der Verfassung, sondern der Verfassungsschutz gefährdet diese Verfassung. Deshalb gehört er abgeschafft.

(Beifall DIE LINKE)

Vizepräsident Frank Lortz:

Kollege Felstehausen, Sie müssen zum Schluss kommen.

Torsten Felstehausen (DIE LINKE):

Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund, Herr Präsident. Ich komme zum Schluss. – Wir haben morgen noch einmal Gelegenheit, dieses Thema zu debattieren. Morgen werde ich Ihnen erzählen, warum trotz aller Reformen und Versprechungen des Innenministers, trotz des vielen Geldes, das auch heute noch in diese Behörde fließt, der Satz noch stimmt: Der Verfassungsschutz gehört abgeschafft. – Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE)