Torsten Felstehausen aktiv vor Ort

Gedanken zu den #NSU-Akten

Tim Dreyer
Antifaschismus

Jetzt sind schon wieder einige Tage vergangen, seit dem „Frag den Staat“ und das “ZDF Magazin Royale“ die sogenannten „NSU-Geheimakten“ veröffentlicht haben. Die Debatte ging in den letzten Tagen bundesweit munter weiter - Zeit daher hier eine zweite und ausführliche Bewertung vorzunehmen.

Starten möchte ich mit einem Rückblick: Anfang Juni 2012 wurde erstmals die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, des hessischen Verfassungsschutzes und des hessischen Innenministeriums im NSU-Mord an Halit Yozgat öffentlich. Ende Juni formulierte die Fraktion DIE LINKE. im Hessischen Landtag einen umfassenden Fragenkatalog zu diesen Themen, den der damalige hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) öffentlich im Landtag beantworten musste.

Zwei Tage bevor Rhein der LINKEN Rede und Antwort stehen musste, wies er den hessischen Verfassungsschutz an, sämtliche Rechtsextremismus-Akten seit 1992 auf NSU-Bezüge zu prüfen. Die Prüfkriterien wurden später um Bezüge zu Waffen und Sprengstoff sowie Untergrundorganisationen erweitert, auch wenn der Verfassungsschutz keine Bezüge zu NSU-Personen finden konnte.

Aus dieser Anweisung entstand später das, was heute als „NSU-Geheimakte“ diskutiert wird. Wir sind davon überzeugt: Erst durch den öffentlichen Druck und insbesondere den Druck, denn die hessische LINKE damals ausgeübt hat, ist der geheime Bericht überhaupt entstanden.

2014 wurde er dann endgültig fertiggestellt - unter dem damals frisch ins Amt gelangtem Innenminister Peter Beuth (CDU). Der Bericht zeichnete ein katastrophales Bild der Arbeit des Verfassungsschutzes in den 2000er-Jahren: Über 950 Hinweisen auf Waffen- und Sprengstoffbesitz von Neonazis ist der Verfassungsschutz nicht nachgekommen. Mehrere hundert Akten waren verschwunden, Teilweise wurden einzelne faschistische Strukturen zwar beobachtet, dem Verfassungsschutz fehlte jedoch die analytische Kompetenz, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Beobachtungsobjekten herzustellen und das „Bigger Picture“ zu sehen.

Und weil der eigene Prüfbericht für den hessischen Verfassungsschutz eine solche Blamage darstellte und kein gutes Haar an der eigenen Arbeit ließ, wurde er von Beuths Innenministerium für 120 Jahre als „geheim“ eingestuft.

Verantwortlich für den desaströsen Zustand des Verfassungsschutzes in den 2000er-Jahren war der damalige Innenminister und spätere Ministerpräsident Volker Bouffier. Boris Rhein, der amtierende Ministerpräsident des Landes Hessen, versuchte in seiner Amtszeit als Innenminister - nach dem der öffentliche Druck zu groß wurde - zaghaft, im eigenen Laden aufzuräumen. Spätestens sein Nachfolger Peter Beuth machte diesen Versuch allerdings wieder zu Nichte, und schloss das Dokument weg.

2017 fand eine Mitarbeiterin der hessischen LInksfraktion (Milena Hildebrand) zufällig in den Akten zum NSU-Untersuchungsausschuss einen Hinweis auf diesen geheimen Prüfbericht. Es dauerte mehrere Monate, bis wir eine geschwärzte Version des Geheimberichtes erhielten und diesen öffentlich im Ausschuss thematisieren durften. Ohne diesen Zufallsfund wüsste die Öffentlichkeit eventuell bis heute nichts von der Existenz dieses Berichts.

Das Theater darum ist jedoch absurd: Der NSU-Ausschuss erhielt damals eine stark geschwärzte und unvollständige Version. Der sehr ausführliche und wichtige Anhang dazu fehlte. Nur den Abgeordneten selbst war es gestattet, die vollständige Version einzusehen - ohne sich jedoch Notizen machen zu dürfen oder mit irgendjemandem darüber zu sprechen.

Mittlerweile durften jedoch mehrere Journalist:innen Einsicht in eine geschwärzte Version des Berichts nehmen und auch dem Lübcke-Untersuchungsausschuss liegt der Bericht vollständig und inklusive Anhang - jedoch an mehreren Stellen geschwärzt - vor. Trotzdem ist der Bericht noch immer für 30 Jahre als geheim eingestuft - und das obwohl man seine Inhalte seit Jahren im Netz überall problemlos finden kann.

Begründet wird das nach wie vor mit dem Schutz der Quellen, V-Leuten und Informant:innen. Für diese bestünde Gefahr für Leib und Leben, sollten die Informationen des Berichts öffentlich werden.

Der Geheimdienst misst hier mit zweierlei Maß. Eine weitere Mitarbeiterin der hessischen Linksfraktion entdeckte in den Akten zum Lübcke-Untersuchungsausschuss zufällig die ungeschwärzte und eigentlich geheime Adresse der Anwältin Seda Başay-Yıldız, die vom sogenannten „NSU 2.0“ mit dem Tode bedroht wird. Die Daten von irgendwelchen Wald- und Wiesen-Nazis will der Verfassungsschutz angeblich selbst vor den Expert:innen der Fraktionen schützen, die einer prominenten und bedrohten Anwältin aber nicht?

Es geht den Behörden nicht darum, Menschenleben zu schützen. Es geht darum, das Beweisstück für das eigene strukturelle Versagen möglichst hinter Verschluss zu halten.

Jetzt könnte man ja denken, was interessiert uns die Selbsteinschätzung des Verfassungsschutzes zu seiner Arbeit in den 1990er und 2000er Jahren? Das sei doch höchstens noch von historischem Interesse. Mittlerweile habe man aus den eigenen Fehlern gelernt und die Behörde ganz anders aufgestellt.

Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke und der Arbeit im Lübcke-Untersuchungsausschuss wissen wir, dass dem mit Nichten so ist. Rein gar nichts hat sich geändert. Der Verfassungsschutz ist immer noch nicht strukturell in der Lage, rechte Netzwerke und rechten Terror zu durchschauen, zu begreifen und zu bekämpfen. Das Versagen der Behörden vor dem Mord an Walter Lübcke geht da weiter, wo es mit dem Auffliegen des NSU geendet hat. Auch das sind hessische Kontinuitäten

Geheimdienste sind strukturell nicht in der Lage Demokratie und Gesellschaft zu beschützen. Wir brauchen sie daher nicht. Der Verfassungsschutz muss aufgelöst werden und durch eine zivile und wissenschaftlich arbeitende Beobachtungsstelle für Demokratie und Menschenrechte ersetzt werden.

Der NSU-Geheimbericht muss freigegeben werden. Alle Akten zum NSU und zu Rechtsterror müssen in einem bundesweiten öffentlichen Archiv gesammelt werden, damit Wissenschaftler*innen, Journalist*innen sowie Historiker*innen mit ihnen arbeiten können. Auch für die Angehörigen der Opfer hat es eine immense Bedeutung, endlich eine zentrale Anlaufstelle zu haben, an dem sie Antworten auf ihre Fragen bekommen können.

Bei den Stasi-Unterlagen ist man einen ähnlichen Weg gegangen. Es wird Zeit, auch Rechtsterror in Deutschland entsprechend zu behandeln.